In Deutschland gibt es 16 Millionen Einfamilienhäuser mit einer oder zwei Wohnungen (Destatis, 2022, S.16). Um das Maß für die enorme Anzahl dieser Bestandsgebäude zu begreifen, hier ein Rechenbeispiel: Bei 83 Millionen Einwohner*innen hätten theoretisch alle Bundesbürger*innen in den bereits bestehenden Einfamilienhäusern ein Dach über dem Kopf, würden sie sich dort jeweils zu fünft arrangieren. Ein solches Transformationspotential adressiert unmittelbar die Planungspraxis. Es kann aber nur gemeinsam mit den Bewohner*innen gehoben werden.

Große Flächenanteile der Einfamilienhäuser sind verwaist, was nicht zuletzt dem demografischen Wandel geschuldet ist. Allein 3,2 Mio Einfamilienhäuser werden von Rentner*innen bewohnt, die jeweils auf mehr als 80 Quadratmeter Wohnfläche pro Person leben, hinzu kommen diejenigen Haushalte, die derzeit noch unter dem Pro-Kopf-Durchschnitt an Wohnflächenverbrauch zu mehreren im Einfamilienhaus leben, deren Nester sich jedoch durch den Auszug der Kinder in absehbarer Zeit leeren werden (Kenkmann et al., 2019). Es wird also auch zukünftig eine Menge an Flächen in Einfamilienhäusern ungenutzt bleiben. Aber wie kann diese im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation aktiviert und zugänglich gemacht werden?

Die genaue Betrachtung des Gebäudebestandes und dessen Bestandsaktivierung birgt ein sichtbares Potential und dies nicht nur im Hinblick auf die Schonung natürlicher Ressourcen (Blum et al., 2022, S.104 ff), sondern insbesondere auch für Wohnqualitäten, die durch mögliche Neuordnungen von Nutzungen entstehen können. Der Umbau von Einfamilien- zu Mehrpersonen-Häusern wird derzeit als Handlungsoption diskutiert. So schlägt das Umweltbundeamt vor, auch in Bezug auf entsprechende (zukünftige) Förder-Programme, die Aufteilung von Einfamilienhäusern in mehrere Wohneinheiten in Betracht zu ziehen (Blum et al., 2022, S.104 ff). Konkret wird zum Beispiel die mögliche Teilung dieses Gebäudetypus vorgeschlagen (Kenkmann et al., 2019, S.70 ff.). Jedoch handelt es sich hierbei lediglich um quantitative Berechnungen. Die Frage, wie ein solcher Umbau des Wohnbestands mit den Bewohner*innen realisiert werden könnte, bleibt offen. Das Problem daran ist: Wohnen ist konservativ (Selle, 1996, S.7). Dies trifft insbesondere auf das Eigenheim in seiner baulichen Form des Einfamilienhauses zu, die nicht zuletzt traditionelle geschlechtliche Rollenmuster reproduziert und an der sich soziale Ungleichheit manifestiert.

Bei der Frage nach dem Wie einer solchen Kursänderung, kann das implizite Wissen und das wissende Handeln der Bewohner*innen selbst – auch über mehrere Generationen – hilfreich sein. Wie also stehen Bewohner*innen zu einer möglichen Transformation ihrer Wohnpraktiken? Wie blicken Sie selbst auf ihr Wohnen? Könnten sie sich Anpassungen, oder sogar das mögliche Teilen von Wohnflächen oder Neuzuordnungen vorstellen?

Geht man von der Wechselwirksamkeit zwischen Bewohner*in und physisch-materiellem aus, sind bauliche Transformationen immer in Verbindung mit der Zähigkeit der Praktiken zu sehen und vice versa. Dies ist wiederum mit und durch die Bewohnerinnenperspektive in Erfahrung zu bringen. Als Architektinnen beschäftigen wir uns mit den beiden letzteren Problemfeldern, der Frage nach der baulichen Transformation. Wir sehen unsere Aufgabe darin, im Vorfeld des Entwurfs, diese Perspektive offen zu legen.

Das Ziel unserer empirischen Forschung ist anhand der Erkenntnisse über Wohnpraktiken und ihrer Räume transformative Stellschrauben zu identifizieren und einen qualitativen Einblick in die Bandbreite der Bestandsbauten zu erhalten. Dabei geht es nicht unbedingt darum, einzelne spezifische Messgrößen in den Blick zu nehmen, sondern um räumlich-programmatische Optionen, wie das Teilen von Räumen, das Auslagern oder Bündeln von Funktionen oder das Erzeugen von Synergieeffekten durch zeitliche und räumliche Verschränkungen oder Neuzuordnungen, zu eruieren.

Wichtiger als eine reine Flächenreduktion oder der Verzicht ist die Suche nach Qualitäten, die auch die Bewohner*innen von Neuem überzeugen oder von bestehenden Herausforderungen entlasten. Ausgangspunkt für ein Transformationsdesign, wie es Harald Welzer und Bernd Sommer (Welzer & Sommer, 2017, S.111-112) beschreiben, ist bei dieser empirischen Vorgehensweise das Infragestellen des Gewohnten (von Mende, 2023).

Die empirische Untersuchung des Feldes der bestehenden Einfamilienhäuser wurde in Zusammenarbeit mit Studierenden im Rahmen eines Forschenden Lehrformats durchgeführt. Eine Auswertung des Materials der multimethodische Erhebung bestehend aus Zeichnungen, Interviews und Modellfotografien wird als Forschungsbericht zusammengestellt. Die Erkenntnisse und Folgefragen der Feldforschung dienen als Grundlage für architektonische Entwurfsprojekte, welche ab Oktober 2023 an der Bauhaus-Universität Weimar entstehen.

Literaturverzeichnis

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Julia von Mende, Hanna Maria Schlösser

Half Measures – Ein empirisch forschendes Lehrformat

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Ausstellung Das Einfamilienhaus zur Disposition im Rahmen der summaery 2023, Foto: Florian Marenbach, 2023

Im Rahmen des Teilprojekts Weiterentwerfen wurden im Seminar Half Measures – Das Einfamilienhaus zur Disposition im Sommersemester 2023 an der Fakultät Architektur und Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar Wohnpraktiken in Einfamilienhäusern untersucht. Ziel war es, angesichts zunehmend unternutzter Flächen in Einfamilienhäusern Hinweise für mögliche Neuzuordnungen, Transformationen und Verdichtungen des Bestandes zu erhalten. Eine empirische Falluntersuchung, die im Rahmen eines forschenden Lehrformats gemeinsam mit Studierenden durchgeführt wurde, diente hierbei als explorativer Einstieg in das für uns noch unbekannte Forschungsfeld. Auf der Summaery, der Jahresausstellung der Bauhaus-Universität, präsentierten die Studierenden im Juli 2023 ihre Falluntersuchungen.

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Julia von Mende, Hanna Maria Schlösser

Half Measures – Ein empirisch forschendes Lehrformat

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Ausstellung Das Einfamilienhaus zur Disposition im Rahmen der summaery 2023, Foto: Florian Marenbach, 2023

Im Rahmen des Teilprojekts Weiterentwerfen wurden im Seminar Half Measures – Das Einfamilienhaus zur Disposition im Sommersemester 2023 an der Fakultät Architektur und Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar Wohnpraktiken in Einfamilienhäusern untersucht. Ziel war es, angesichts zunehmend unternutzter Flächen in Einfamilienhäusern Hinweise für mögliche Neuzuordnungen, Transformationen und Verdichtungen des Bestandes zu erhalten. Eine empirische Falluntersuchung, die im Rahmen eines forschenden Lehrformats gemeinsam mit Studierenden durchgeführt wurde, diente hierbei als explorativer Einstieg in das für uns noch unbekannte Forschungsfeld. Auf der Summaery, der Jahresausstellung der Bauhaus-Universität, präsentierten die Studierenden im Juli 2023 ihre Falluntersuchungen.

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Julia von Mende, Hanna Maria Schlösser

Thesis-Gruppe Einfamilienhaus – Anwendung empirischen Wissens im Entwurf

In Anknüpfung an die empirische Untersuchung von Einfamilienhäusern mit ihren Bewohner*innen im forschenden Lehrformat Half Measures – Das Einfamilienhaus zur Disposition aus dem Sommersemester 2023 wird die Anwendbarkeit des gewonnenen Wissens im Entwurf erprobt. Dazu wird im Wintersemester 2023/24 die Bearbeitung einer Thesis im B.Sc. Architektur in der Thesis-Gruppe Einfamilienhaus angeboten.

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Interdisziplinäres Forscher*innenteam

Das Bauschild

Das Einfamilienhaus mit Garten stellt ein für viele Menschen scheinbar alternativloses Ideal dar. Nicht wahrgenommen werden ökologische (beispielsweise Versiegelung und ein höherer Heizbedarf), ökonomische (beispielsweise die Erschließung für technische Infrastruktur) sowie gesellschaftliche Folgen (wie soziale Ungleichheiten und die Konsolidierung traditioneller Rollenbilder).

DIESE KOSTEN TRÄGT DIE GESAMTGESELLSCHAFT.

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Bauschild auf dem Campus der Bauhaus-Universität Weimar zur summaery23 (Jahresausstellung der Bauhaus-Universität Weimar), Foto: Florian Marenbach, 2023