Przyborski, A. & Wohlrab-Sahr, M. (2014). Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
Nach oben
08:35
Ein Interview ist eine Gesprächsform von ein oder mehreren Personen, die in der Wissenschaft benutzt wird, um Erfahrungen von Menschen zu sammeln, die diese ansonsten nicht von selbst dem Wissenschaftsdiskurs zur Verfügung stellen würden. Die Interviewform hängt maßgeblich davon ab, wer interviewt wird und wie diese Person einen Beitrag zur Forschungsfrage leisten kann. Das kann beispielsweise ein Expert*innen-Interview, ein narratives oder ein leitfadengestütztes Interview sein. Letztere zwei Interviewformen kamen im Rahmen der Forschungswerkstatt zur Anwendung. Über diese wird in diesem Beitrag berichtet und reflektiert, welche Vor- und Nachteile die Methoden bringen.
Die Methode des Interviews ist für die Wohnungsforschung von besonderer Relevanz. Sie ermöglicht, die Nachfrageseite zu erforschen. Da ‚Wohnen' für alle Menschen ein Grundbedürfnis darstellt, können also theoretisch auch alle Menschen darüber interviewt werden. Um eine geeignete Auswahl an Interviewpartnerinnen festzulegen, werden im Forschungsdesign Kategorien von Zielgruppen erstellt, bzw. Interviewpartner*innen mit einer bestimmten Expertise, einem bestimmten Vorwissen, gesucht.
In den drei Teilprojekten der Forschungswerkstatt wurden Interviews geführt. Neben der soeben erwähnten besonderen Eignung von Interviews für die Wohnungsforschung, entsprang die gemeinsame Motivation auch aus einem Oral-History Workshop, den Dr. Agnès Arp von der Oral-History-Forschungsstelle der Universität Erfurt geleitet hat. Die Forscher*innen haben durch verschiedene Übungen eine geteilte Erfahrung der Interviewführung gemacht und erlebt, dass das Forschen im Austausch mit anderen viel Freude bringt.
Das Interview mit Bewohner*innen erwies sich in diesem Kontext nicht nur als wesentlicher Schlüssel zum Verständnis von Wohnungsfragen und deren räumlichen Zusammenhängen, sondern entfaltete auch eine überraschend verbindende Wirkung innerhalb der Forscherinnengruppe.
Beim narrativen Interview handelt es sich um eine Methode der qualitativen Sozialforschung, die den Interviewpartner*innen große Freiheiten bei der Nacherzählung persönlich erlebter Lebensabschnitte lässt. Die Methode ermöglicht Forschenden, Verkettungen von Ereignissen im Leben der Interviewpartner*innen in der Rückschau nachzuvollziehen, ohne dabei durch gezielte Nachfragen Schwerpunkte vorzugeben. Nur Prozesse lassen sich mit dieser Methode erzählen, „nicht Zustände, Haltungen, Ansichten, Theorien“. (vgl. Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2014, S.82). Die Interviewpartner*innen setzen die relevanten Punkte durch Anfang und Ende der Erzählung, Betonungen, Pausen, Auslassen, Wiederholungen. Diese müsse in der Auswertung der Interviews sorgfältig herausgearbeitet werden.
In Vorbereitung auf das Interview wird eine erzählgenerierende Frage formuliert, welche geeignet ist, das Material zu erheben, das für die Beantwortung der Forschungsfrage benötigt wird. Die Frage sollte gleichzeitig offen genug formuliert werden, um den Befragten einen Erzählfluss mit selbst festgelegtem Anfangs- und Endpunkt zu eröffnen (vgl. Küsters, 2022).
Die Methode des narrativen Interviews in der Wohnungsforschung bringt neue Erkenntnisse und gibt bspw. Aufschluss über die Motive für Wohnentscheidungen. Da Wohnwünsche und -vorstellungen sich nicht in Kurzform und geradlinig erläutern lassen, bietet diese Methode die Möglichkeit, ein wenig Distanz und Selbstreflektion in den Erzählungsverlauf zu gewinnen.
Przyborski, A. & Wohlrab-Sahr, M. (2014). Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
Küsters, I. (2022). Narratives Interview. In Baur, N. & Blasius, J. (Hg.) Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Springer.
Der Begriff Wohnungsforschung umfasst mehrere Forschungsbereiche, die transdisziplinär das Thema 'Wohnen' wissenschaftlich bearbeiten. Themen wie beispielsweise Wohnungspolitik, Wohnungsbau, Produktion und Formen des Wohnens, Finanzierung, Steuerung oder Wohnsoziologie werden von Architekt*innen, Urbanist*innen und Soziolog*innen untersucht. Siehe Selbstverständnis der Weimarer Wohnungsforschung
Für Forschungsarbeiten, „die bestimmte, relativ klar eingegrenzte Fragestellungen verfolgen“ (vgl. Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2014, S.126) kommt auch die Methode des leitfadengestützten Interviews in Frage. Wie beim narrativen Interview auch, wird vor dem Interviewtermin ein Leitfaden entwickelt. Im Unterschied zum narrativen Interview, gibt der Leitfaden im leitfadengestützten Interview bereits eine Richtung für das Gespräch vor und zielt auf die relativ direkte Beantwortung bereits festgelegter Themenbereiche des Forschungsvorhabens ab (vgl. Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2014, S.127ff), der Leitfaden soll also dazu beitragen, bisherige Annahmen zu überprüfen, sowie neue Hypothesen zu entwickeln. (vgl. Eckardt, 2014, S.158) Im Vorgespräch werden die Fragen grob erklärt. Im Leitfaden stehen Themen und Unterthemen, die die Strukturierung des Interviewablaufs unterstützen, aber nicht einschränken sollen. Wenn die Aussagen sprunghaft sind, kann der Leitfaden dabei helfen, auf Themen zurückzukommen, die noch nicht besprochen wurden und gezielt nachzufragen. Für die Auswertung werden mithilfe des Leitfadens Kategorien entwickelt (Codes), anhand derer die Analyse stattfinden kann und Schlussfolgerungen gezogen werden.
Przyborski, A. & Wohlrab-Sahr, M. (2014). Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
Eckardt, F. (2014). Experten-Interviews. In: Stadtforschung. Springer VS, Wiesbaden.
Im Teilprojekt Eigentum lautete die Einstiegsfrage: Wie ist es dazu gekommen, dass Sie ein Haus oder eine Wohnung erworben haben? Im Teilprojekt Eigentum, wie auch in den anderen Teilprojekten, kam die Methode der Interviewführung zur Anwendung. Jedoch hat sich dieses Teilprojekt dafür entschieden, die Interviews mit einem zugrundeliegenden Leitfaden und ergänzt durch eine Begleitskizze durchzuführen. Zielgruppe waren Besitzer*innen von Eigenheim, insgesamt vier Paare, die Eigentümer*innen von Einfamilienhäusern im Umland von Weimar sind. So ist die Studie als Porträtserie von vier Haushalten und deren Beziehung zum Haus einzuordnen. Die Analyse ermöglichte es, Kategorien zu bilden, die mit einem größeren Sample belegt werden könnten. Es handelt sich also um work in progress: eine Vertiefung der Analyse könnte mit weiteren Interviews sehr effektiv durchgeführt werden. Dies war im Rahmen der Forschungswerkstatt aber kaum möglich.
Das Teilprojekt Wohnwünsche und ihre Erfüllung zwischen Gemeinschaftsprojekt und Eigenheim diente neben den inhaltlichen Erkenntnissen auch als Testlauf für die Anwendung der Methode des narrativen Interviews. Bereits durch die Auswahl der Interviewpartner*innen, die gezielte Suche nach Bewohner*innen von Gemeinschaftsprojekten, die jedoch in der Vergangenheit bereits in einem Einfamilienhaus gelebt haben, davon träumten oder es sich noch immer wünschen, wussten die Interviewpartner*innen, dass wir uns für die Motive hinter ihren Wohnentscheidungen und -wünschen interessieren. Die Einstiegsfrage in den Interviews lautete: Wie kam es dazu, dass Sie heute hier in diesem Wohnprojekt leben? Sowohl die sorgfältige und konzentrierte Interviewführung, als auch die Auswertung narrativer Interviews bedarf in jedem Fall einiger Übung für einen souveränen Umgang mit dieser Methode. Diese Übung kann nach den Interviews im Teilprojekt noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden.
Im Teilprojekt Weiterentwerfen haben Studierende der Bauhaus-Universität Weimar mit Bewohnenden vor Ort, in ihren Häusern, offene Leitfadeninterviews geführt. Die Fragestellung nach Wohnpraktiken und deren Materialisierung sollte auf Transformationspotentiale im Entwurf abzielen. Die verbale Erhebungsform wurde mit visuellen Erhebungsmethoden kombiniert (Fotografien, Zeichnungen von Grundrissen, Pläne), um auch die physisch-materiellen Aspekte von Wohnpraktiken erfassen zu können.
Herausfordernd an der Methode des narrativen Interviews war, dass manche Interviewpartner*innen es nicht gewohnt waren, so offen und viel über sich selbst zu sprechen. Manchen fehlten die Worte, andere fanden die Worte erst nach ein wenig Bedenkzeit und mussten sich Warmreden (Agnès Arp). Hier galt es, Geduld und Feingefühl zu wahren und eine angenehme Atmosphäre zu schaffen: Lücken aushalten; Zeit lassen, bis der/die Gesprächspartner*in weitere Gedanken entwickeln und formulieren konnte. Aus dem ersten Erzählfluss ergaben sich für dieden Forscher*in auch erste Anknüpfungspunkte, in Rückfragen zum Erzählten konnten diese aufgegriffen und vertieft oder Unklarheiten beseitigt werden. Ein übersichtlicher, thematisch sortierter Backup-Leitfaden diente dabei als Unterstützung, um auch bei einem eher kurzen Gesprächsfluss am Ende noch gezielte Fragen nachzuschieben.
In die Auswertung narrativer Interviews sollen neben dem Inhalt der Antworten auch Anfangs- und Endpunkt sowie die Reihenfolge des Erzählten, aber auch Wiederholungen, Pausen, Ungesagtes, Abgebrochenes, Unsicherheiten oder andere Gefühlsregungen einfließen (vgl. Küsters, 2022). Auch diese Anforderung erwies sich in der Anwendung der Methode zwar als sehr interessant, aber auch als Herausforderung.
Auch eine Kombination des narrativen und leitfadengestützten Interviews kam in der Forschungswerkstatt zur Anwendung. Hierbei sollte die Befragte auf eine offene Einstiegsfrage hin zunächst erzählen und im Anschluss mit dem Leitfaden gezielter befragt werden. Da ein Forschungsteam bestehend aus zwei Mitgliedern die Interviews gemeinsam führte, hatte diese kombinierte Methode große Vorteile gegenüber dem freien und zeitlich unbegrenzten Erzählen. Für beide Forscher*innen war jederzeit klar, welche konkreten Nachfragen folgen sollten und in welche Richtung das Interview im Anschluss an die Eingangserzählung gehen sollte.
Die Durchführung von Interviews unter Zuhilfenahme von Skizzen und Visualisierungen (z.B. Karten von Wohnort, Zeitstrahl) hat sich als zielführend herausgestellt. Diese Begleitmaterialien trugen nicht nur dazu bei, das Eis zu brechen und die Gesprächsatmosphäre positiv zu beeinflussen, sie waren auch sehr hilfreich, um die Lebensstationen (Geburt Kind, Scheidung, Umzug, etc.) zu rekonstruieren. Die Forscher*innen unterstützten diese Visualisierungen dabei, den Gedankenfluss zu strukturieren, gezielt nachzufragen, um Missverständnisse zu klären, bzw. Gedanken zu vertiefen.
In allen drei Teilprojekten waren viele Paare unter den Interviewpartner*innen. Uneindeutig bleibt nach den Interviews, ob es sinnvoller ist, Haushaltsangehörige, in unseren Fällen Paare, gemeinsam zu ihren Wohnentscheidungen zu befragen, oder ob Einzelgespräche zielführender sind. Przyborski und Wohlrab-Sahr schreiben hierzu: „Wenn in einem Forschungsvorhaben Paare oder Familien interviewt werden sollen, muss man sich vorher klar machen, ob sie im Hinblick auf das, was in der Forschung von Interesse ist, tatsächlich eine hinreichend identifizierbare ‚gemeinsame' Geschichte haben, die als solche erzählt werden kann“ (vgl. Przyborski, Wohlrab-Sahr, 2014, S.82). Da Wohnentscheidungen in Paarbeziehungen selten allein getroffen werden und sich die Partner*innen im Entscheidungsprozess gegenseitig beeinflussen, erscheint ein gemeinsames Gespräch durchaus sinnvoll, auch wenn, wie Przyborski und Wohlrab-Sahr zu bedenken geben, ein narratives Interview mit zwei oder mehr Personen nicht nach Lehrbuch der Struktur eines narrativen Interviews folgend durchführbar ist. (ebd.) Eine konzentriertere Gesprächsatmosphäre kommt in Einzelinterviews leichter zustande. Hierzu müssten weitere Versuche mit der Methode stattfinden, auch in der Variante, in der die Haushaltsmitglieder einzeln, aber nacheinander befragt werden. Abschließend geklärt werden kann die Frage aber wegen der individuell stark unterschiedlichen Personen und Beziehungsgefügen auch mit vielen weiteren Übungsinterviews wahrscheinlich nicht.
Küsters, I. (2022). Narratives Interview. In Baur, N. & Blasius, J. (Hg.) Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Springer.
Przyborski, A. & Wohlrab-Sahr, M. (2014). Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
Auch wenn, wie weiter oben ausgeführt, die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Interviews jeweils einige Herausforderungen beinhaltete, lohnte der Erkenntnisgewinn die Mühen. Zudem entstand der Eindruck, dass die Gesprächspartner*innen sich gern an der Erforschung möglicher Transformationspotentiale des Wohnens im Eigenheim beteiligten: Die Forschenden wurden ausnahmslos freundlich, offen und vertrauensvoll von den Interviewpartner*innen in deren Wohnungen und Häusern empfangen. Vielen Dank an dieser Stelle an alle, die ihre persönlichen Wohnerfahrungen mit uns geteilt und diese Arbeiten ermöglicht haben.
03:38
Das Einfamilienhaus mit Garten stellt ein für viele Menschen scheinbar alternativloses Ideal dar. Nicht wahrgenommen werden ökologische (beispielsweise Versiegelung und ein höherer Heizbedarf), ökonomische (beispielsweise die Erschließung für technische Infrastruktur) sowie gesellschaftliche Folgen (wie soziale Ungleichheiten und die Konsolidierung traditioneller Rollenbilder).
DIESE KOSTEN TRÄGT DIE GESAMTGESELLSCHAFT.
Beschreibt einen selbst finanzierten und genutzte Wohnraum, meist mit der Verknüpfung von Rechtsformen und dem freistehenden Wohnhaus. Ferner wird damit auch das Wohnen in Ein- oder Mehrfamilienhäusern bzw. Ein- & Mehrparteihäusern innerhalb einer Wohnung (Eigentumswohnung) beschrieben.
Wohnform, welche sowohl eine architektonische Typologie als auch eine Nutzungsart beschreibt. Typologisch ist das Haus meist ein freistehendes Einzelgebäude, in selteneren Fällen ein Doppelhaus und besteht entweder aus einer (+1) Wohneinheit mit einer Hauptwohnung und einer Nebenwohnung oder in seiner Form als Doppelhaus aus 2 Wohneinheiten. Die Nutzung dient dem Wohnen. Im Begriff ist jedoch auch der Gedanke einer heteronormativen Familienkonstellation verankert. Zeitgemäß kann die Wohnform als Einparteienhaus beschrieben werden. Vorrangig handelt es sich bei dieser Wohnform und -nutzung um selbstgenutztes Eigentum.
Als sozial-ökologische Transformation bezeichnen wir in Anlehnung an das I.L.A. Kollektiv einen radikalen Veränderungsprozess, der ein solidarisches und gutes Leben für alle Menschen zum Ziel hat (vergl. I.L.A. Kollektiv, 2019, S.106). Bezogen auf das Thema Wohnen bezieht sich die sozial-ökologische Transformation auf eine Umgestaltung der Produktion und Organisation von Wohnraum, seiner Eigentumsformen sowie seiner planerischen und architektonischen Ausgestaltung. Das Wohnen im Einfamilienhaus, die Verfügbarkeit von Wohnraum, der Besitz von Wohneigentum oder die dauerhafte Verfügbarkeit von Bauland werden oft als selbstverständlich angesehen. Eine sozial-ökologische Transformation versucht, die Vorstellungen darüber, wie wir als Gesellschaft das Wohnen und sein Verhältnis zu Natur und Umwelt organisieren, so zu verändern und diese normalisierten Vorstellungen aufzubrechen. Langfristiges Ziel ist es, Wohnen als menschliches Grundbedürfnis für alle so zu verwirklichen, dass es keinen kapitalistischen Verwertungsinteressen unterliegt, Ungleichheiten verschärft oder ökologische Kosten verursacht. Ein solcher sozial-ökologischer Transformation des Wohnens setzt daher auch ein Umdenken in Architektur und Design, in Stadtplanung und Städtebau voraus. Das Einfamilienhaus soll jedoch nicht einfach abgeschafft werden. Es gibt keinen Masterplan dafür, wie eine sozial-ökologische Transformation von Einfamilienhausgebieten aussehen könnten.
Die Forschungswerkstatt ist ein besonderes Förderformat, dass ein Jahr lang junger Wissenschaftler*innen an der Bauhaus-Universität Weimar unterstützte. Mit dem Ziel eine ergebnisoffene und methodenorientierte Forschung zu transdisziplinären Themen zu unterstützen, außerhalb konventioneller Richtlinien.